Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland
Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik
Großbritannien ist in den 1930er-Jahren – nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Kolonien – nach wie vor eine Weltmacht. Politisch wird das Land von der Conservative Party dominiert, die mit Stanley Baldwin und Neville Chamberlain zwei der drei Premierminister dieser Jahre stellt. Bis 1939 setzen diese außenpolitisch auf eine Appeasement-Politik gegenüber NS-Deutschland. Großbritannien wird in den 1930er-Jahren weniger hart von der Wirtschaftskrise getroffen als Deutschland oder die USA, dennoch kommt es zu sozialen Unruhen und Hungermärschen. 1932 gibt es 2,85 Millionen Arbeitslose im Land.
Entsprechend ist der Regierung daran gelegen, dass die Flüchtlinge keine Konkurrenz für den Arbeitsmarkt darstellen. Zugleich sollen sie aber auch nicht dem Staat zur Last fallen. Infolgedessen wird die Einreise in der Regel nur dann erlaubt, wenn entweder ausreichend Kapital oder finanzielle Bürgen (oftmals die britisch-jüdischen Hilfsorganisationen) vorhanden sind oder eine Arbeitserlaubnis existiert. Letztere wird jedoch nur erteilt, wenn dadurch keinem Briten ein Nachteil entsteht. Gute Chancen besitzen etwa Hausangestellte.
Mit diesen strikten Zulassungskriterien setzt die Regierung die damals gängige Einreisepolitik fort, die seit 1920 rechtlich in der „Aliens Order“ verankert ist. Für Flüchtlinge gelten folglich dieselben Kriterien wie für alle anderen Immigranten auch. Nach dem „Anschluss“ Österreichs wird die Einreise zusätzlich durch eine Visumspflicht für Österreicher und Deutsche erschwert.
Erst nach dem Novemberpogrom kommt es zu einer vorübergehenden Lockerung der Einreisebedingungen. Etwa 40.000 Menschen finden in den folgenden Monaten Zuflucht in Großbritannien, darunter fast 10.000 Kinder und Jugendliche, die mit den „Kindertransporten“ ins Land kommen.
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges endet diese Einreisewelle abrupt. Deutsche Staatsbürger werden nur noch in Ausnahmefällen zugelassen. Flüchtlinge, die bereits im Land sind, geraten als deutsche Bürger unter Generalverdacht. Direkt nach Kriegsbeginn kommt es zu Untersuchungen und ersten Internierungen. Ab Mai 1940 geht die britische Regierung schließlich zu einer Masseninternierung von „Enemy Aliens“ über, von der auch viele Flüchtlinge betroffen sind. Im Laufe des Krieges wird der Großteil der rund 30.000 Internierten wieder aus den Lagern entlassen.
In den 1930er-Jahren wird auch über die Möglichkeiten diskutiert, Flüchtlinge in den Kolonien anzusiedeln. Dies führt jedoch zu keinem nennenswerten Ergebnis: Höchstens 3.000 Juden finden dort bis 1939 Zuflucht.
MI6-Agent Frank Foley, um 1939
Foley arbeitet in den 1930er-Jahren zur Tarnung als Passkontrolleur in der britischen Botschaft in Berlin. Er nutzt diese Funktion, um 10.000 Juden bei der Ausreise aus Deutschland zu helfen. Dabei umgeht er nicht nur eigenmächtig die strikten britischen Vorgaben, sondern fälscht auch Pässe.
Foreign & Commonwealth Office, London
Oswald Mosley mit Frau Cynthia, undatiert
Mosley gründet 1932 die British Union of Fascists (BUF). Diese Bewegung orientiert sich am italienischen Faschismus, später auch am deutschen Nationalsozialismus. 1934 verfügt sie über 50.000 Mitglieder. Politisch gelingt es der BUF jedoch nicht, großen Einfluss zu gewinnen. Dennoch sorgt sie etwa durch gewalttätige Übergriffe auf Kommunisten und Juden immer wieder für Schlagzeilen.
Bain News Service/ Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-DIG-ggbain-38928
Ankunft der HMT (His Majesty’s Transport) Dunera in Sydney am 6. September 1940
An Bord befinden sich fast 2.000 jüdische und politische Flüchtlinge, Hunderte weitere Personen – darunter deutsche Kriegsgefangene – haben das Schiff bereits in Melbourne verlassen. Die Männer gehören zu den mehr als 8.000 Internierten, die Großbritannien als „Enemy Aliens“ nach Australien und Kanada abschiebt. An Bord herrschen katastrophale Bedingungen.
The Sydney Morning Herald, 7. September 1940 / Pyrmont History Group, Sydney
Delegation
Edward Turnour, 6th Earl Winterton
* 4.4.1883 London † 26.8.1962 Midhurst
Turnours Familie gehört dem irischen Adel an. Als sein Vater 1907 stirbt, erbt er dessen Titel „Earl Winterton“. Turnour schlägt eine politische Karriere ein: Noch während seines Jurastudiums in Oxford wird er 1904 ins britische Parlament gewählt, dem er 47 Jahre als Abgeordneter der Conservative Party angehört.
Während des Ersten Weltkrieges kämpft er u. a. in der Schlacht von Gallipoli. Zurück auf der politischen Bühne übernimmt er 1922 das Amt des Unterstaatssekretärs für Indien, welches er bis 1929 nahezu durchgängig ausübt.
Unter Neville Chamberlain wird Turnour 1937 zum Chancellor of the Duchy of Lancaster, einem Minister ohne Geschäftsbereich, ernannt. Als solcher führt er ein Jahr später die britische Delegation in Évian an.
Danach übernimmt er bis 1945 den Vorstandsvorsitz des aus der Konferenz hervorgegangenen Zwischenstaatlichen Komitees für Flüchtlinge. Turnour gilt als Antizionist. Durch seine Erhebung in den britischen Adelsstand erhält er 1952 einen Sitz im britischen Oberhaus.
Edward Turnour, 6th Earl Winterton, undatiert
Foto: Elliott & Fry / National Portrait Gallery, London
Sir (Charles) Michael Palairet
* 29.9.1882 Berkeley † 5.8.1956 Allerford, Minehead
Palairet stammt aus einer Offiziersfamilie mit hugenottischen Wurzeln. 1905 beginnt er eine Diplomatenlaufbahn, die ihn in den nächsten Jahren nach Rom, Wien, Paris und Athen führt. Während seines anschließenden Einsatzes in Asien erlebt er 1923 das Große Kanto-Erdbeben in Japan, bei dem mehr als 140.000 Menschen sterben und die Tokioter Botschaft zerstört wird.
Nach seiner Rückkehr nach Europa ist Palairet unter anderem als britischer Gesandter in Rumänien und Schweden tätig. Im Dezember 1937 wechselt er nach Österreich, wo er in den kommenden Monaten die politischen Spannungen vor dem „Anschluss“ erlebt. Nach Schließung der britischen Vertretung kehrt er vorübergehend nach London zurück und nimmt im Sommer 1938 an der Évian-Konferenz teil.
Als Gesandter in Athen erlebt er 1941 den Einmarsch der Wehrmacht in Griechenland mit und weicht mit der griechischen Regierung nach Kairo aus. Zwei Jahre später, kurz nach seiner Ernennung zum Botschafter, führt ihn sein Weg jedoch zurück nach London.
Sir (Charles) Michael Palairet, 1939
Foto: Bassano Ltd. / National Portrait Gallery, London
Sir John Evelyn Shuckburgh
* 18.3.1877 Eton † 8.2.1953 London
Shuckburgh stammt aus Eton, wo sein Vater als Altphilologe am renommierten Eton College unterrichtet. Er schlägt 1900 eine Laufbahn im Staatsdienst ein. Zunächst arbeitet er in verschiedenen Funktionen und Abteilungen im India Office, dem für Britisch-Indien zuständigen Ministerium.
1921 übernimmt er im Kolonialministerium die Leitung der Nahost-Abteilung. Diese ist für die Gebiete des ehemaligen osmanischen Reiches zuständig, für welche Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg im Auftrag des Völkerbundes die Mandatsverwaltung übernommen hat. In Shuckburghs Aufgabenbereich fällt somit auch Palästina, wo Mitte der 1930er-Jahre der Widerstand der arabischen Bevölkerung gegen die jüdische Einwanderung immer weiter zunimmt.
Obwohl die Palästina-Frage auf britischen Wunsch auf der Évian-Konferenz nicht thematisiert werden soll, gehört Shuckburgh der britischen Delegation als Berater an. 1940 übernimmt er für zwei Jahre das Amt des Gouverneurs von Nigeria.
Sir John Evelyn Shuckburgh, 1939
Foto: Bassano Ltd. / National Portrait Gallery, London
Roger Mellor Makins
* 3.2.1904 London † 9.11.1996 Basingstoke
Der Sohn eines Brigadegenerals studiert Geschichte und Jura in Oxford, bevor er 1928 eine diplomatische Laufbahn einschlägt. Diese führt ihn in den 1930er-Jahren in die USA, wo er die Tochter eines amerikanischen Politikers heiratet, und nach Oslo.
Zur Zeit der Évian-Konferenz ist er im Außenministerium für Völkerbundsangelegenheiten zuständig, 1939 übernimmt er die Leitung der Westeuropaabteilung. Während des Zweiten Weltkrieges ist er u. a. Assistent von Harold Macmillan, dem britischen Vertreter im alliierten Hauptquartier im Mittelmeerraum.
Nach dem Krieg spielt Makins als Gesandter (1945–1947) und späterer Botschafter (1953–1956) in Washington eine wichtige Rolle in den britisch-amerikanischen Beziehungen. Zu seinen Spezialgebieten gehören Wirtschafts- und Atomkraftfragen, was dazu beiträgt, dass er 1960 Vorsitzender der britischen Atomenergiebehörde wird. 1964 erfolgt seine Ernennung zum Lord. Später ist er über 20 Jahre Kanzler der Universität Reading.
Roger Mellor Makins, 1st Baron Sherfield, August 1949
Foto: Walter Stoneman / National Portrait Gallery, London
Victor Alexander Cazalet
* 27.12.1896 London † 4.7.1943 Gibraltar
Cazalet stammt aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie, deren Kontakte bis ins britische Königshaus reichen: Königin Victoria ist seine Patentante.
Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er in Frankreich kämpft, studiert er Geschichte in Oxford. 1924 wird er als Mitglied der Conservative Party ins britische Parlament gewählt, dem er sein Leben lang angehört. Eine große politische Karriere bleibt ihm jedoch verwehrt.
In den 1930er-Jahren setzt er sich im Parlament und in Zeitungsartikeln immer wieder für die verfolgten Juden ein und ist Befürworter einer jüdischen Massenansiedlung, etwa in Nordrhodesien. An der Évian-Konferenz nimmt Cazalet als Privatsekretär von Lord Winterton teil. Auch während des Zweiten Weltkrieges bleibt er ein wichtiger Fürsprecher der europäischen Juden und beanstandet den Umgang der Alliierten mit dem Holocaust.
Ab 1940 ist er als Verbindungsoffizier zur polnischen Exilregierung tätig. Während einer Nahost-Reise mit dem polnischen Exil-Premierminister, Władysław Sikorski, kommt er 1943 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
Victor Alexander Cazalet, ca. 1941
Foto: Fayer / Buchcover: Robert Rhodes James, Victor Cazalet. A portrait, London 1976
Zusammenfassung der Stellungnahme
Lord Winterton hebt während der ersten Sitzung der Konferenz am 6. Juli 1938 die Tradition Großbritanniens hervor, Menschen, die „aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen ihr eigenes Land verlassen mussten“, Asyl zu bieten. Zugleich betont er jedoch, dass das Vereinigte Königreich „kein Immigrationsland“ sei und dass aus „wirtschaftlichen und sozialen Gründen“ – er nennt u. a. die starke Besiedlung des Landes und die Arbeitslosigkeit – die „traditionelle Politik der Asylgewährung […] nur in engen Grenzen Anwendung finden“ könne. Es soll an der Praxis der letzten fünf Jahre festgehalten werden. Bezüglich der britischen Kolonien und Überseegebiete betont er, dass klimatische, „rassische“ und politische Faktoren die Situation dort zusätzlich verkomplizieren würden. Die „Möglichkeiten, europäischen Flüchtlingen Asyl zu bieten“, seien daher stark eingeschränkt. Die Regierung sei jedoch „nicht hoffnungslos, dass einige ihrer Kolonialgebiete […] in der Lage sind, einen Beitrag […] zur Lösung des Problems zu leisten.“
Konferenzbeiträge
Ansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 6. Juli 1938, 16 Uhr, S. 1/7
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Ansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 6. Juli 1938, 16 Uhr, S. 2/7
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Ansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 6. Juli 1938, 16 Uhr, S. 3/7
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Ansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 6. Juli 1938, 16 Uhr, S. 4/7
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Ansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 6. Juli 1938, 16 Uhr, S. 5/7
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Ansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 6. Juli 1938, 16 Uhr, S. 6/7
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Ansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 6. Juli 1938, 16 Uhr, S. 7/7
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Denkschrift für das Technische Unterkomitee über den Beitrag, den die Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich zu leisten imstande ist zum Problem der Auswanderung aus Deutschland und Österreich, 11. Juli 1938, S. 1/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Denkschrift für das Technische Unterkomitee über den Beitrag, den die Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich zu leisten imstande ist zum Problem der Auswanderung aus Deutschland und Österreich, 11. Juli 1938, S. 2/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Denkschrift für das Technische Unterkomitee über den Beitrag, den die Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich zu leisten imstande ist zum Problem der Auswanderung aus Deutschland und Österreich, 11. Juli 1938, S. 3/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Denkschrift für das Technische Unterkomitee über die Einwanderungsgesetze des Vereinigten Königreichs und ihre Anwendung sowie die gegenwärtige Politik der Regierung Seiner Majestät hinsichtlich der Aufnahme von Einwanderern, 8. Juli 1938, S. 1/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Denkschrift für das Technische Unterkomitee über die Einwanderungsgesetze des Vereinigten Königreichs und ihre Anwendung sowie die gegenwärtige Politik der Regierung Seiner Majestät hinsichtlich der Aufnahme von Einwanderern, 8. Juli 1938, S. 2/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Denkschrift für das Technische Unterkomitee über die Einwanderungsgesetze des Vereinigten Königreichs und ihre Anwendung sowie die gegenwärtige Politik der Regierung Seiner Majestät hinsichtlich der Aufnahme von Einwanderern, 8. Juli 1938, S. 3/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Stellungnahme für das Technische Unterkomitee betreffend britische Kolonien etc., 8. Juli 1938, S. 1/2
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Stellungnahme für das Technische Unterkomitee betreffend britische Kolonien etc., 8. Juli 1938, S. 2/2
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Stellungnahme für das Technische Unterkomitee von Sir John Shuckburgh im Namen der britischen Kolonien, 11. Juli 1938, S. 1/2
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Stellungnahme für das Technische Unterkomitee von Sir John Shuckburgh im Namen der britischen Kolonien, 11. Juli 1938, S. 2/2
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Schlussansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 15. Juli 1938, 11 Uhr, S. 1/4
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Schlussansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 15. Juli 1938, 11 Uhr, S. 2/4
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Schlussansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 15. Juli 1938, 11 Uhr, S. 3/4
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Schlussansprache von Lord Winterton in der öffentlichen Sitzung am 15. Juli 1938, 11 Uhr, S. 4/4
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY