Verschärfung des Auswanderungsdrucks
Das bis dahin für die „Judenpolitik“ maßgebliche Referat des Sicherheitsdienstes der SS (SD) zieht aus den Ergebnissen der Konferenz von Évian den Schluss, dass die vollständige Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland nicht durch Erleichterungen bei der Einwanderung in andere Länder erreicht werden kann. Daher geht das NS-Regime unter Federführung der Gestapo dazu über, einige Juden direkt aus dem Reichsgebiet abzuschieben und den Auswanderungsdruck durch physischen Terror, die Ausschaltung aus Berufen und Gewerben sowie zusätzliche wirtschaftliche Ausplünderung zu erhöhen.
Durch die Einführung der Zwangsnamen „Sara“ und „Israel“ und die Kennzeichnung ihrer Reisepässe mit einem roten „J“ im Oktober 1938 sind Juden jedoch leicht für die Behörden der potenziellen Einwanderungsländer erkennbar. Diese Maßnahmen und die verstärkte wirtschaftliche Ausplünderung der Juden reduzieren die Chancen auf Einreisegenehmigungen. Trotzdem emigrieren 1939 aus Deutschland 78.000 Juden und damit fast doppelt so viele wie im Vorjahr.
Abschiebung von Juden polnischer Staatsangehörigkeit, 28./29. Oktober 1938
Nachdem die polnische Regierung angekündigt hat, im Ausland lebenden polnischen Juden die Staatsangehörigkeit abzuerkennen, werden am 28./29. Oktober 1938 im gesamten Reichsgebiet etwa 17.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder mit polnischem Pass festgenommen und in Sonderzügen zur polnischen Grenze gefahren. Etwa 10.000 von ihnen irren über Wochen im Niemandsland zwischen dem deutschen Neu-Bentschen und dem polnischen Zbąszyń umher.
American Jewish Joint Distribution Committee, Archives, New York, NY
Marcel Reich im Warschauer Ghetto, 1942
Der Sohn eines Fabrikbesitzers im polnischen Włocławek wird 1928 als Achtjähriger zu Verwandten nach Berlin geschickt, um dort das Gymnasium zu besuchen. Im Rahmen der „Polen-Aktion“ wird er im Oktober 1938 nach Warschau abgeschoben. Mit viel Glück überlebt er Ghetto und Untergrund und wird später als Marcel Reich-Ranicki Deutschlands prominentester Literaturkritiker.
Foto: Leon Forbert, Warschau / Ida Thompson-Ranicki, Edinburgh
Ruine der niedergebrannten Synagoge in der Berliner Prinzregentenstraße, 10. November 1938
Aus Protest gegen die Abschiebung seiner Eltern verübt der 17-jährige Herschel Grynszpan in Paris ein Attentat auf den Mitarbeiter der deutschen Botschaft Ernst vom Rath. Das NS-Regime nimmt den Tod des Diplomaten am 9. November 1938 zum Anlass für staatlich organisierte und als Ausdruck des „Volkszorns“ deklarierte Terrormaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung. In der Nacht zum 10. November 1938 werden jüdische Gotteshäuser, Geschäfte und Wohnungen in Brand gesetzt, zerstört und geplündert und mehr als 100 Juden ermordet.
Foto: Karl H. Paulmann / bpk 00003438
Festgenommene jüdische Männer werden von SS-Leuten und Polizei abgeführt, Baden-Baden, 10. November 1938
An diesem und den folgenden Tagen werden mehr als 26.000 Juden in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt, wo Hunderte von ihnen sterben. Die Überlebenden werden nur entlassen, wenn ihre Angehörigen die Absicht und Möglichkeit der sofortigen Auswanderung aus dem Deutschen Reich nachweisen können.
Bundesarchiv, Koblenz, Bild 183-86686-0008
„Hart, aber gerecht“, Der Angriff, 14. November 1938
Am 12. November 1938 erlässt Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan eine „Verordnung über die Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“. Betriebe jüdischer Eigentümer müssen zum 1. Januar 1939 schließen. Außerdem wird den Juden für die bei den Ausschreitungen entstandenen Schäden eine „Sühneleistung“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark auferlegt.
Bundesarchiv, Berlin, R 8045-317
Der Chef der Sicherheitspolizei an das Auswärtige Amt, 15. November 1938
Nach Vorbild der von Adolf Eichmann gegründeten Zentralstellen für jüdische Auswanderung in Wien und Prag wird eine Reichszentrale geschaffen, bei der die bürokratische Abwicklung der Auswanderung von Juden konzentriert ist. Aus ihr geht später Adolf Eichmanns „Judenreferat“ hervor, das die Deportation der europäischen Juden in die Vernichtungslager organisiert.
Auswärtiges Amt / Politisches Archiv, Berlin, R 99366
Menschenschlange vor dem Reisebüro „Palestine & Orient Lloyd“, Meinekestraße 2, Berlin, 22. Januar 1939
Ganz in der Nähe, in der Meinekestraße 10, ist das Palästinaamt der Jewish Agency for Palestine untergebracht, das bis 1941 ca. 50.000 Menschen zur Auswanderung nach Palästina verhilft.
SZ Photo, München