Niederlande
Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik
In den 1930er-Jahren herrschen in den Niederlanden stabile politische Verhältnisse. An der Spitze wechselnder konservativer Regierungen steht von 1933 bis 1939 Ministerpräsident Hendrikus Colijn von der Anti-Revolutionären Partei. Die Weltwirtschaftskrise hinterlässt auch in den Niederlanden ihre Spuren: Die Folgen sind dort recht spät, dafür aber länger spürbar als in vielen anderen Ländern. Noch 1935/36 sind 20 Prozent der Berufsbevölkerung arbeitslos. Deswegen dient die Wirtschaftslage immer wieder als – teils vorgeschobenes – Argument zur Rechtfertigung der (Flüchtlings-)Politik. Außenpolitisch setzt die Regierung auf Neutralität. Ein wichtiges Ziel ist es dabei, Deutschland als wichtigsten Handelspartner und mächtigen Nachbarn nicht zu verärgern.
Als 1933 die erste Flüchtlingswelle das Land erreicht, verhält sich die Regierung zunächst abwartend. Deutsche Bürger können sich, sofern sie über ausreichend Existenzmittel verfügen, ohne größere Schwierigkeiten im Land niederlassen. Eine Ausnahme stellen Menschen dar, die als potenzielle Gefahr für den Staat angesehen und nach geltendem Recht ausgewiesen werden können. Das bekommt ein Teil der politischen Flüchtlinge zu spüren: Die Angst vor „Linken“ ist groß. Ausländern ist jegliche politische Betätigung verboten. 1934 kommt es zu ersten Razzien, und 1935 wird ein Internierungslager eröffnet, das jedoch nach wenigen Monaten wieder geschlossen wird. Dennoch kommt es immer wieder zu Ausweisungen und Internierungen.
Auch jüdische Flüchtlinge sind ab 1934 vermehrt von Regierungsmaßnahmen betroffen. So soll etwa die Einreise nicht-deutscher Flüchtlinge, also vor allem Juden osteuropäischer Herkunft, möglichst verhindert werden. Zudem wird der Zugang zum Arbeitsmarkt beschränkt: Ab 1935 benötigen ausländische Lohnarbeiter in bestimmten Branchen eine Arbeitserlaubnis, 1937 wird ein Gesetz verabschiedet, das Unternehmensgründungen durch Ausländer reguliert.
Die Politik wird zunehmend restriktiver und erreicht im Frühjahr 1938 eine neue Stufe: Flüchtlinge gelten nun als „unerwünschte Elemente“. Neuankömmlinge dürfen ab Mai 1938 nur noch in Ausnahmefällen einreisen, für alle anderen sind die Grenzen fortan geschlossen.
An diesem Einreisestopp hält die niederländische Delegation auch bei der Évian-Konferenz fest. Nach dem Novemberpogrom weicht die Regierung vorübergehend von ihrem strikten Kurs ab und lässt – auch auf Druck der Öffentlichkeit – weitere Flüchtlinge zu. Etwa 10.000 Menschen kommen (teils illegal) ins Land, von denen ein Teil in neu errichteten Lagern untergebracht wird.
Junge Flüchtlinge bei der Feldarbeit im Werkdorp Nieuwesluis, 1936
Ab 1934 werden im Werkdorp Hunderte jüdische Flüchtlinge in den Bereichen Landwirtschaft, Handwerk oder Hauswirtschaft ausgebildet. Sie sollen damit auf ein Leben in Palästina oder anderen Ländern vorbereitet werden. Die Regierung hat dazu Teile des Wieringermeerpolders kostenlos zur Verfügung gestellt. Bedingung für eine Aufnahme ist jedoch, dass die Flüchtlinge nach der Ausbildung schnellstmöglich weiterwandern.
Foto Willem van der Poll / Nationaal Archief, Den Haag, Fotosammlung Van der Poll, CC0
Menschenansammlung vor dem Eissalon Koco in der Amsterdamer Rijnstraat
Am 24. Mai 1939 wird das von jüdischen Flüchtlingen betriebene Eiscafé zur Zielscheibe der niederländischen Nationaal-Socialistische Beweging. Mitglieder der 1931 gegründeten NSB zerstören die Einrichtung des Cafés und schlagen auf die Besucher ein. Mehrere Menschen werden verletzt. Flüchtlinge bilden in den 1930er-Jahren ein beliebtes Ziel für – anfangs meist nur verbale – Angriffe der NSB.
Verzetsmuseum Amsterdam
Die ersten Flüchtlinge treffen im Zentralen Flüchtlingslager Westerbork ein, 1939
Das nahe der deutschen Grenze gelegene Lager soll die provisorischen Flüchtlingslager ersetzen, in denen ein Teil der geflohenen Juden nach dem Novemberpogrom untergebracht wurde. 1942 wird Westerbork von den deutschen Besatzern zum Durchgangslager umfunktioniert, von wo aus die Deportationszüge in die Konzentrations- und Vernichtungslager fahren.
Herinneringscentrum Kamp Westerbork, Hooghalen
Delegation
Willem Cornelis Beucker Andreae
* 9.2.1882 Den Haag † 29.11.1958 Zeist
Nach einem Studium der Rechtswissenschaften und anschließender Promotion beginnt Beucker Andreae 1906 eine Laufbahn im niederländischen Außenministerium. Diese unterbricht er Ende 1910 und arbeitet in den nächsten Jahren unter anderem als Strafverteidiger. 1916 verschlägt es ihn nach Niederländisch-Indien, wo er als Privatsekretär des Generalgouverneurs tätig ist und sich unter anderem der Bekämpfung der Tuberkulose widmet.
Nach seiner Rückkehr in die Niederlande tritt er 1921 erneut ins Außenministerium ein und wird Leiter der dortigen Rechtsabteilung. In dieser Funktion gehört er einer Ende 1935 einberufenen Kommission an, die – vor dem Hintergrund der Flüchtlingsfrage – die aktuelle Ausländergesetzgebung überprüfen und gegebenenfalls Änderungen vorbereiten soll. Im Sommer 1946 dankt er ab und wird zum Ehrenberater des Außenministeriums ernannt.
Willem Cornelis Beucker Andreae während seiner Rede auf der Évian-Konferenz, C.V.-Zeitung. Allgemeine Zeitung des Judentums, 21. Juli 1938
Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main
Robert Antony Verwey
* 12.1.1882 Surabaya † 19.5.1980
Verwey wird in Niederländisch-Indien geboren, wo sein Vater als Lehrer arbeitet. Er studiert Bauingenieurwesen in Delft und tritt, nachdem er einige Jahre als Ingenieur gearbeitet hat, 1908 in den Staatsdienst ein. Zunächst ist er im Ministerium für Wasserwirtschaft tätig. 1917 beginnt seine Karriere im Reichsdienst für Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung, dem er schließlich als Direktor vorsteht. Diese Institution ist in den 1930er-Jahren u. a. für die Vergabe der Arbeitserlaubnis für Ausländer und damit auch für Flüchtlinge zuständig.
Verwey, der bereits in den 1930er-Jahren Bewunderung für die nationalsozialistische Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gezeigt hat, wird während der deutschen Besatzung kommissarischer Generalsekretär des Sozialministeriums. Er steht zudem dem neu geschaffenen Reichsarbeitsamt vor, das für die Verschickung niederländischer (Zwangs-)Arbeiter nach Deutschland zuständig ist. Nach dem Krieg wird er deshalb vorübergehend verhaftet und 1946 unehrenhaft aus dem Staatsdienst entlassen.
Robert Antony Verwey, undatiert
PDC Universiteit Leiden
Johannes Petrus Hooykaas geboren als Isaäc Petrus Hooijkaas
* 14.11.1900 Zutphen † 17.7.1971 Scheveningen
Hooykaas wächst in einem Lehrerhaushalt auf: Sein Vater ist ab 1912 Rektor eines Arnheimer Gymnasiums. Nach einem Jurastudium in Utrecht und einer zweijährigen Tätigkeit als Repetitor beginnt 1925 seine Karriere im niederländischen Justizministerium. Zur Zeit der Évian-Konferenz fungiert er dort als (Rechts-)Berater der Abteilung für Staats- und Strafrecht. Er ist Verfechter eines Strafrechts, in dem die Interessen der Gemeinschaft über denen des Individuums stehen sollen.
Während der deutschen Besatzung wird er 1941 zum Generalsekretär des Justizministeriums ernannt, wird nach wenigen Monaten jedoch von der Besatzungsmacht wieder abgesetzt, da er nicht im gewünschten Maße kooperiert. Er ist dennoch weiterhin im Ministerium tätig.
1946 wechselt er als Richter an den Amsterdamer Gerichtshof, 1948 wird er schließlich zum Generalanwalt am Hoge Raad der Nederlanden, dem obersten niederländischen Gericht, ernannt. Zwei Jahre später wird er Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Utrecht.
Johannes Petrus Hooykaas, undatiert
Collectie Universiteitsmuseum Utrecht, Inv. Nr. 0285-3463
Zusammenfassung der Stellungnahme
W. C. Beucker Andreae erklärt am zweiten Tag der Konferenz, dass die Niederlande aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte und der großen Arbeitslosigkeit aktuell keine weiteren Flüchtlinge – von Ausnahmefällen abgesehen – aufnehmen könnten. Erst nach Weiterwanderung derjenigen, die sich bereits im Land befinden, „wird es möglich sein, weitere Flüchtlinge für einen temporären Aufenthalt zuzulassen, vorausgesetzt, dass ihre endgültige Emigration in Länder, in denen sie sich permanent niederlassen werden, ausreichend gewährleistet ist.“ Während eines internen Treffens wird auch die rechtliche Situation in Niederländisch-Indien thematisiert. Dort gilt seit November 1933 ein Quotensystem. Einmal pro Jahr legt die Regierung fest, wie viele Ausländer im nächsten Jahr zugelassen werden dürfen. Neben der Gesamtzahl werden auch Länderquoten festgelegt, die jedoch, wenn die Gesamtquote nicht ausgeschöpft wird, leicht überschritten werden dürfen.
Konferenzbeiträge
Stellungnahme von Willem C. Beucker Andreae (Niederlande) in der öffentlichen Sitzung am 7. Juli 1938, 15.30 Uhr, S. 1/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Stellungnahme von Willem C. Beucker Andreae (Niederlande) in der öffentlichen Sitzung am 7. Juli 1938, 15.30 Uhr, S. 2/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Stellungnahme von Willem C. Beucker Andreae (Niederlande) in der öffentlichen Sitzung am 7. Juli 1938, 15.30 Uhr, S. 3/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Erklärung der Delegation der Niederlande bei der ersten Sitzung des Technischen Unterkomitees am 8. Juli 1938, S. 1/2
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Erklärung der Delegation der Niederlande bei der ersten Sitzung des Technischen Unterkomitees am 8. Juli 1938, S. 2/2
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY