Chile
Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik
Die Einwanderungspolitik des seit 1818 unabhängigen Chile ist vor allem auf eine Ausweitung der Agrargrenzen und Kolonisierung des Landes ausgerichtet, die zu Lasten der indigenen Bevölkerung geht. Im 19. Jahrhundert kommen unter anderem deutschsprachige Immigranten in das Land. Zu den Zuwanderern des 20. Jahrhunderts gehören Juden aus Russland und dem Balkanraum, obwohl sie als „rassisch unerwünscht“ gelten.
Nach 1929 brechen die Exporterlöse für Salpeter und Kupfer, Chiles größte Wirtschaftszweige, ein; die Arbeitslosigkeit steigt. 1931 wird der diktatorisch regierende Präsident Carlos Ibáñez del Campo gestürzt; das politische Chaos endet erst 1932 mit der Wahl Arturo Alessandri Palmas. Als Liberaler war er bereits von 1920 bis 1925 Präsident; in seiner zweiten Amtszeit regiert er konservativ. Er verschärft die Einwanderungspolitik mit Verweis auf den Schutz des heimischen Arbeitsmarktes. Nunmehr werden vor allem Landwirte zugelassen, die Einwanderung von Juden quotiert.
Trotz immer stärkerer Restriktionen kommen in den ersten Jahren des NS-Regimes mehrere hundert deutsche Juden in das Land. Gleichzeitig erstarken faschistische und nationalistische Bewegungen in Chile. Das 1932 gegründete Movimiento Nacionalsocialista de Chile wird von der deutschen Botschaft und der Auslandsorganisation der NSDAP unterstützt.
Nationalismus und Rechtsruck bleiben jedoch nicht unwidersprochen: 1936 gründen jüdische Einwanderer das Comité Contra el Antisemitismo.Kommunisten, Sozialisten und Radikale schließen sich zur Frente Popular (Volksfront) zusammen, die Ende 1938 an die Macht gelangt.
Der neue Präsident Pedro Aguirre Cerda vertritt eine liberale Einwanderungspolitik, insbesondere gegenüber republikanischen Flüchtlingen aus Spanien. Für die Aufnahme von 3.000 Juden aus Deutschland und Österreich wird ein spezielles Büro des Außenministeriums eingerichtet. Durch die Liberalisierung schnellen die Zahlen der Neueinwanderer in die Höhe. Die extreme Rechte greift daraufhin die Regierung an und wirft ihr eine Gefährdung der nationalen Sicherheit vor. Die Debatte in Parlament und Presse trägt deutlich antisemitische Züge.
Nach Beschuldigungen, sich an der Vergabe „jüdischer Visa“ bereichert zu haben, muss der Außenminister 1940 zurücktreten, die humanitär begründete Aufnahmepraxis endet unter dem Druck der Immigrationsgegner. Auch die Verschleppung und Verweigerung von Visa durch rechtsgerichtete Konsuln trägt dazu bei. Trotz allem bleibt Chile eines der wichtigsten lateinamerikanischen Fluchtziele für Juden.
„Instruktionen“ des chilenischen Außenministers José Ramón Gutiérrez Allende für die Delegation in Évian, 4. Juli 1938
Die Évian-Konferenz wird in Chile wenig beachtet, die Einwanderung gilt unter Alessandri als geregelt. Die restriktiven Bestimmungen spiegeln sich auch in den Anweisungen: „Jeden formalen Kompromiss vermeiden. […] Geltende Gesetze über die Begrenzung des Zugangs für Juden mitbedenken, um übermäßige Einwanderung einer einzelnen Gruppe zu vermeiden“.
Archivo General Histórico, Ministerio de Relaciones Exteriores de Chile, Santiago de Chile
Jüdische Flüchtlinge aus Österreich auf der SS Virgilio bei der Überfahrt von Italien nach Chile, Juli 1939
Mindestens 13.000 Juden erreichen zwischen 1933 und 1945 das Land. Sie lassen sich meist in der Hauptstadt Santiago nieder und werden von Hilfsorganisationen und der jüdischen Gemeinde unterstützt. Viele können sich in Chile eine neue Existenz aufbauen.
Foto: Leo Spitzer / United States Holocaust Memorial Museum, Washington
Pablo Neruda, 1950
Pablo Neruda gehört zu einer Gruppe chilenischer Intellektueller, die sich für eine Ächtung der NS-Judenverfolgung stark machen. Am 20. November 1938 organisiert die Alianza de Intelectuales de Chile, deren Gründer er ist, eine Kundgebung, an der 10.000 Personen teilnehmen. Ihr Eintreten für eine Aufnahme von Flüchtlingen zeigt, dass der Antisemitismus in Chile nicht breitenwirksam ist.
Archivo General Histórico, Ministerio de Relaciones Exteriores de Chile, Santiago de Chile / Wikimedia Commons
Delegation
Fernando Garcia Oldini
* 1896 oder 1898 † 13.5.1965 Genf
Fernando Garcia Oldini arbeitet als Schriftsteller und ab 1924 als Redakteur der chilenischen Tageszeitung La Nacion. Daneben beginnt er eine diplomatische Karriere. Nach einem Studium der Volkswirtschaftslehre in Genf ist er mit dem Schwerpunkt Sozialfürsorge bei der Internationalen Arbeitsorganisation des Völkerbundes tätig, der er bis mindestens in die 1950er-Jahre hinein als Delegierter angehört. Ab 1927 Honorarkonsul in Bern, kehrt er 1932 nach Chile zurück, um bis 1934 im Kabinett von Arturo Alessandri das Amt des Arbeits- und Gesundheitsministers zu übernehmen.
In den folgenden Jahren vertritt er Chile als Gesandter in der Schweiz, Österreich, Ungarn und Spanien und zudem als Ständiger Delegierter erneut beim Völkerbund. 1948 kehrt er als Leiter der diplomatischen Abteilung des chilenischen Außenministeriums nochmals in sein Heimatland zurück, Anfang der 1950er-Jahre fungiert er kurzzeitig als Außenminister. 1953 erhält Garcia Oldini wieder den Posten als Gesandter in der Schweiz und wird 1957 dort Botschafter.
Fernando Garcia Oldini in den 1950er-Jahren als Gesandter in Bern
Schweizerisches Bundesarchiv, Bern, E2001E#197884#2275
Zusammenfassung der Stellungnahme
Der chilenische Delegierte Oldini warnt in seiner Stellungnahme angesichts der finanziellen, logistischen, räumlichen und sozialen Herausforderungen der Migration von Flüchtlingen davor, „falsche Hoffnungen“ zu wecken. Im Falle Chiles nennt er als Immigrationshindernis den begrenzten Zugang des „jungen Landes“ zu den internationalen Märkten und damit die geringen Absatzmöglichkeiten, die im Falle einer verstärkten Zuwanderung entweder zu einer Überproduktion oder einer erhöhten Arbeitslosenzahl führten. Eine vermehrte Ansiedlung von Flüchtlingen macht er deshalb von einer Erweiterung der Märkte abhängig. Eine Prognose zukünftiger Zuwanderungsmöglichkeiten oder eine allgemeine Zusage seien nicht möglich: Zum Schutze der einheimischen Arbeiter und auch Landwirte, gerade nach der Erfahrung der Wirtschaftskrise, müsse die Einreiseerlaubnis Einzelfallentscheidung bleiben und sich im Rahmen der geltenden Bestimmungen bewegen. Chile akzeptiere hierbei nur reguläre Pässe der jeweiligen Regierungen.
Konferenzbeiträge
Rede von Fernando Garcia Oldini (Chile) in der öffentlichen Sitzung am 9. Juli 1938, 11 Uhr, S. 1/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Rede von Fernando Garcia Oldini (Chile) in der öffentlichen Sitzung am 9. Juli 1938, 11 Uhr, S. 2/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Rede von Fernando Garcia Oldini (Chile) in der öffentlichen Sitzung am 9. Juli 1938, 11 Uhr, S. 3/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Erklärung der Delegation Chiles für das Technische Unterkomitee betreffend Ausweispapiere, 12. Juli 1938
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Erklärung von Fernando Garcia Oldini in der nicht-öffentlichen Sitzung am 14. Juli 1938, 17 Uhr
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY