Kanada
Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik
Der 1867 aus britischen Kolonien hervorgegangene Bundesstaat Kanada erlangt erst 1931 seine faktische Unabhängigkeit von Großbritannien. Die politische Struktur des Landes ist geprägt von Differenzen zwischen der in der Provinz Québec konzentrierten französischsprachigen Bevölkerung und der anglokanadischen Mehrheit, aus der sich größtenteils die politische Elite des Landes rekrutiert. Auf kontinuierliche Zuwanderung angewiesen, verfolgt Kanada bis in die 1960er-Jahre gleichwohl eine restriktive, nach ökonomischen, nationalen und teilweise offen rassistischen Kriterien ausgestaltete Einwanderungspolitik.
Seit 1923 unterscheidet die Einwanderungsbehörde zwischen „erwünschter” und „unerwünschter” Einwanderung. Unerwünscht ist die Einwanderung von Asiaten, die 1923 mit dem bis 1947 angewandten „Chinese Immigration Act“ gesetzlich verboten wird. Angestrebt wird dagegen die Ansiedlung von Bauern aus englischsprachigen Ländern sowie aus Nord- und Mitteleuropa. Damit sind die überwiegend städtisch geprägten mitteleuropäischen Juden faktisch von der Einwanderung ausgeschlossen. Als Folge der Weltwirtschaftskrise und der verheerenden Dürren in der kanadischen Prärie werden die Einwanderungsbestimmungen 1930 noch einmal verschärft.
Die kanadische Gesellschaft lehnt die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge in den 1930er-Jahren mehrheitlich ab. Unter den anglokanadischen Eliten grassiert ein latenter, im französischsprachigen Québec ein offener Antisemitismus, der dort unter der klerikal-reaktionären Regierung der Union Nationale ab 1936 die offizielle Politik bestimmt. Die Bundesregierung äußert zwar Mitgefühl für die europäischen Juden, lässt nach Möglichkeit aber weiterhin keine Flüchtlinge ins Land. Innenpolitisch begründet sie das mit der Sorge um die Einheit des Bundesstaates, da die auf Autonomie drängende Provinz Québec großzügigen Einwanderungsregelungen für Juden niemals zustimmen würde. Über die Einladung zur Konferenz von Évian schreibt Premierminister William MacKenzie King im März 1938 in sein Tagebuch, dass Kanada mit seinen großen weiten Räumen und seiner kleinen Bevölkerungszahl aufpassen müsse, nicht den „Spielverderber“ zu geben. Gleichzeitig müsse man aber „erreichen, diesen Teil des Kontinents frei von Aufruhr und von zu großer Beimischung fremden Blutes zu halten“.
Insgesamt finden zwischen 1933 und 1945 weniger als 5.000 jüdische Flüchtlinge Zuflucht in Kanada, eine für die Größe des Landes extrem geringe Zahl. Deswegen gilt diese Zeitspanne im heutigen Kanada als Tiefpunkt der kanadischen Einwanderungsgeschichte. Auch aus diesen Erfahrungen heraus entwickelt sich Kanada ab Mitte der 1960er-Jahre zu einem der Länder mit der nachhaltigsten und liberalsten Flüchtlingspolitik.
Commander J. M. Scott, Funktionär der Christian National Socialist Party, bei einer Kundgebung in Montreal, 1938
In Kanada entstehen auch außerhalb der deutschstämmigen Bevölkerung nationalsozialistische und antisemitische Gruppierungen. 1938 hat die vier Jahre zuvor in Quebec gegründete Christian National Socialist Party 1.800 Mitglieder. Ihr Erkennungszeichen ist ein von Ahornblättern umgebenes und von einem Biber gekröntes Hakenkreuz. Die Partei verbreitet die Legende von der „jüdischen Weltverschwörung”, und ihre Anhänger attackieren Juden und deren Einrichtungen.
Life, 21. Februar 1938
William MacKenzie King beim Verlassen der Präsidialkanzlei nach seinem Empfang bei Hitler, 29. Juni 1937
Auf Anregung des britischen Premierministers Neville Chamberlain besucht King nach einer Konferenzteilnahme in London im Juni 1937 Berlin, wo er von Hitler empfangen wird. Der kanadische Liberale ist trotz aller weltanschaulichen Gegensätzlichkeiten von dessen Persönlichkeit beeindruckt und vergleicht Hitler in einem Tagebucheintrag als „Befreier seines Volkes“ mit Jeanne d’Arc.
Bundesarchiv, Koblenz, Bild 183-C09362
Telegramm prominenter Bürger Torontos an Premierminister MacKenzie King, 7. Juni 1939, S. 1
Die Unterzeichner bitten darum, „als Zeugnis für die wahrhaft christliche Barmherzigkeit dieses so glücklichen und gesegneten Landes“ die Passagiere des Flüchtlingsschiffes St. Louis in Kanada aufzunehmen. Zu ihnen gehört George MacKinnon Wrong, einer der Wegbereiter der modernen kanadischen Geschichtswissenschaft und Vater des kanadischen Delegierten bei der Konferenz von Évian.
Library and Archives Canada, Ottawa
Telegramm prominenter Bürger Torontos an Premierminister MacKenzie King, 7. Juni 1939, S. 2
Die Unterzeichner bitten darum, „als Zeugnis für die wahrhaft christliche Barmherzigkeit dieses so glücklichen und gesegneten Landes“ die Passagiere des Flüchtlingsschiffes St. Louis in Kanada aufzunehmen. Zu ihnen gehört George MacKinnon Wrong, einer der Wegbereiter der modernen kanadischen Geschichtswissenschaft und Vater des kanadischen Delegierten bei der Konferenz von Évian.
Library and Archives Canada, Ottawa
Frederick Charles Blair, November 1932
Als Direktor der Einwanderungsbehörde setzt Blair zwischen 1936 und 1943 eine rassistisch und antisemitisch motivierte Flüchtlingspolitik durch. Im Juni 1939 lehnt er die Aufnahme der St. Louis -Passagiere ab: „Kein Land könnte seine Türen weit genug öffnen, um die Hunderttausende von jüdischen Menschen, die Europa verlassen wollen, aufzunehmen. Irgendwo muss eine Linie gezogen werden.“
Library and Archives Canada, Ottawa
Delegation
Humphrey Hume Wrong
* 10.9.1894 Toronto † 24.1.1954 Ottawa
Wrong stammt aus einer einflussreichen bildungsbürgerlichen Familie in Toronto und wird an Eliteuniversitäten in Kanada und England ausgebildet. Nach der Teilnahme am Ersten Weltkrieg und einer kurzen Lehrtätigkeit als Historiker an der University of Toronto tritt er 1928 in den diplomatischen Dienst ein.
Als Ständiger Vertreter Kanadas beim Völkerbund in Genf ist er 1938 Delegierter seines Landes in Évian. Dort vertritt er die restriktive Flüchtlingspolitik seiner Regierung, auch wenn er ihr persönlich skeptisch gegenübersteht. In einem Brief kritisiert er Ende Juni 1938 die mangelhafte Vorbereitung der Konferenz, deren Teilnehmer zusammenkommen würden, „ohne wesentlich mehr zu wissen, was von ihnen erwartet wird, als die Croupiers im hiesigen Kasino“.
Während des Zweiten Weltkrieges entwickelt Wrong einen funktionalistischen Ansatz in der Außenpolitik, nach dem (s)ein Land in den Bereichen, in denen es die Ressourcen einer Großmacht habe, international auch als solche auftreten solle. Ab 1946 ist er Botschafter in den USA. Kurz vor seinem Tod wird er zum Staatssekretär für Äußeres ernannt.
Humphrey Hume Wrong als Soldat der Oxfordshire and Buckinghamshire Light Infantry, Sommer 1916
Im Ersten Weltkrieg nimmt Wrong an der Schlacht an der Somme teil, in der sein Bruder getötet wird. Aufgrund dieser Erfahrung räumt er als Diplomat der Sicherung des Friedens oberste Priorität ein. Er unterstützt die Gründung der Vereinten Nationen 1945 und des Nordatlantischen Verteidigungspaktes 1949. Auch als Botschafter in den USA tritt er für die Stärkung internationaler Organisationen ein.
Terence Wrong, New York, NY
Wrong als Diplomat im Canada House in London, 1940
Terence Wrong, New York, NY
Zusammenfassung der Stellungnahme
Der Delegierte Wrong erklärt in seiner öffentlichen Stellungnahme das Mitgefühl Kanadas mit den europäischen Flüchtlingen. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass die Wirtschaftskrise 1930 eine Änderung der kanadischen Einwanderungsgesetze erfordert habe, nachdem im vorangegangenen Jahrzehnt 10.000 Immigranten aus Europa gekommen seien. Erlaubt sei seither nur die Einreise von Landwirten mit ausreichenden Mitteln sowie von engen Verwandten bereits in Kanada Ansässiger. Alle weiteren Einreisewilligen benötigten eine Ausnahmegenehmigung. Hierfür würden sie, so heißt es im internen Bericht, einer medizinischen Untersuchung unterzogen. Unter anderem Personen mit „geistigen oder physischen Störungen“ oder ansteckenden Krankheiten, Bettler, Prostituierte, Kriminelle, Analphabeten, Alkoholiker, Revolutionäre und Anarchisten seien unerwünscht. In seiner Rede spricht sich Wrong für eine größtmögliche Kooperation mit dem Völkerbund und die Notwendigkeit aus, auch die Herkunftsländer zu Zugeständnissen zu bewegen.
Konferenzbeiträge
Rede von Humphrey Hume Wrong (Kanada) in der öffentlichen Sitzung am 7. Juli 1938, 15.30 Uhr, S. 1/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Rede von Humphrey Hume Wrong (Kanada) in der öffentlichen Sitzung am 7. Juli 1938, 15.30 Uhr, S. 2/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Rede von Humphrey Hume Wrong (Kanada) in der öffentlichen Sitzung am 7. Juli 1938, 15.30 Uhr, S. 3/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Bericht an das Technische Unterkomitee über kanadische Einwanderungsbestimmungen, die anwendbar sind auf Einwanderer, die nach Kanada kommen aus Ländern auf dem europäischen Kontinent, 8. Juli 1938, S. 1/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Bericht an das Technische Unterkomitee über kanadische Einwanderungsbestimmungen, die anwendbar sind auf Einwanderer, die nach Kanada kommen aus Ländern auf dem europäischen Kontinent, 8. Juli 1938, S. 2/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Bericht an das Technische Unterkomitee über kanadische Einwanderungsbestimmungen, die anwendbar sind auf Einwanderer, die nach Kanada kommen aus Ländern auf dem europäischen Kontinent, 8. Juli 1938, S. 3/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY