Brasilien
Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik
Die brasilianische Bevölkerung im 19. Jahrhundert geht mehrheitlich auf Einwanderung oder Zwangsverschleppung aus Afrika, Europa und Asien zurück. Nach dem Ende der Sklaverei 1888 fördert die Republik mit liberalen Gesetzen die Immigration, um einerseits die riesigen Flächen des Landes zu besiedeln und zu kultivieren und andererseits den Bedarf an Arbeitskräften im boomenden Kaffeeanbau sowie in den wachsenden Metropolen zu decken. Allerdings versucht die Regierung, Zuwanderung aus Afrika und Asien zu unterbinden, während Einwanderer aus Europa mit offenen Armen aufgenommen werden. In den 1920er-Jahren fordern führende Politiker und Medien – von Ideen der Eugenik beeinflusst – die Beschränkung auf „reine“ Europäer.
Begünstigt durch den Verfall des Kaffeepreises infolge der Weltwirtschaftskrise gewinnt 1930 Getúlio Vargas mit einem nationalistischen und auf wirtschaftlichen Fortschritt setzenden Programm die Präsidentschaftswahlen. Seine Vorstellungen eines „Estado Novo“ (Neuer Staat) sind antikommunistisch, rassistisch und antisemitisch und gründen auf einer Änderung der Bevölkerungspolitik: Mindestens zwei Drittel der Belegschaft eines Betriebes müssen fortan brasilianisch sein.
Vargas wendet sich zudem gegen separatistische Tendenzen in der Bevölkerung, etwa solche der deutschen Minderheit. In die möglichst weiße „brasilidade“ sollen sich neue Zuwanderer bruchlos einfügen und alle Merkmale ihrer Herkunftsländer aufgeben; mit der neuen Verfassung von 1934 gilt eine jährliche Einwanderungsquote. Im August 1938 bekräftigt Präsident Vargas seine Politik: „Die Einwanderer müssen sich als Kraft für den Fortschritt erweisen, […] wir müssen uns jedoch gegen das Einsickern bzw. Einschleusen von Elementen schützen, die sich in ideologische oder rassische Abweichler verwandeln könnten.“
Antisemitische Kräfte forcieren nun ein völliges Verbot der Einwanderung von Juden. Die Visavergabe ist zudem abhängig von der Einstellung der jeweiligen Konsulate. Ab 1939 wird empfohlen, Juden, die als „hilfreich“ für die Entwicklung des Landes anzusehen seien, ein Visum auszuhändigen. An der Entscheidung über Anträge sind das Justizministerium, der Generalstab und die politische Polizei beteiligt. Hierdurch gerät die Frage der Zuflucht für Juden zu einem Thema nationaler Sicherheit.
Einer großen Zahl jüdischer Flüchtlinge gelingt es, durch falsche Angaben zur Religion nach Brasilien zu gelangen. Von 1933 bis 1945 finden 23.572 Juden Zuflucht in Brasilien.
C.V.-Zeitung. Allgemeine Zeitung des Judentums, 15. September 1938
In dem Sonderbericht für die Zeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens werden die neuen Quotenregelungen für die Einwanderung nach Brasilien erläutert. Die Zahl der Immigranten soll zwei Prozent der bereits ansässigen Einwanderer aus den verschiedenen Ländern nicht überschreiten. Die Erfordernisse für den Erhalt eines Visums, die der Artikel ebenfalls nennt, sind hoch.
Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main
US-Präsident Roosevelt (Mitte) mit Brasiliens Präsident Getúlio Vargas (links) bei einem Treffen auf einem US-Zerstörer vor der brasilianischen Hafenstadt Natal, Januar 1943
Vargas bemüht sich um eine Annäherung an die USA. Gleichzeitig werden ihm persönliche Sympathien für Hitler nachgesagt. Er betreibt eine Politik der Neutralität und Balance zwischen den Machtblöcken, da er weder die Geschäfte mit dem Deutschen Reich noch die Beziehungen zu den USA gefährden will.
United States Office of War Information / Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-DIG-ds-00602
Delegation
Hélio Lobo
* 27.10.1883 Juiz de Fora † 1.1.1960 Rio de Janeiro
Nach dem erfolgreichen Abschluss eines Jurastudiums spezialisiert sich Hélio Lobo auf Militärstrafrecht. Im Anschluss arbeitet er als Redakteur für verschiedene Zeitungen, bevor er in den diplomatischen Dienst wechselt. Er gilt als Vertreter der Politik der Amerikanisierung, die insbesondere eine Annäherung Brasiliens an die USA vorsieht.
Als Mitglied des Brasilianischen Instituts für Geschichte und Geographie publiziert er historische Untersuchungen über die brasilianische Diplomatie, in denen er die These vertritt, dass internationales Recht zur Wahrung des Friedens beiträgt. Seine diplomatische Karriere führt ihn 1919 als Delegierten Brasiliens zu den Friedensverhandlungen nach Versailles und von 1920 bis 1926 als Generalkonsul nach London und New York. In den 1920er- und 1930er-Jahren vertritt er Brasilien zudem auf den wichtigsten interamerikanischen und internationalen Konferenzen.
In Évian leitet Lobo die brasilianische Delegation und wird später Mitglied im Vorstand des Zwischenstaatlichen Komitees für Flüchtlinge in London.
Hélio Lobo, mit Frau und Kind, undatiert
Bain News Service / Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-DIG-ggbain-34810
Jorge Olinto de Oliveira
* 1885 Porto Alegre, Rio Grande do Sul † unbekannt
Der zweite Delegierte des Landes wird als Sohn eines bekannten Facharztes für Pädiatrie im südbrasilianischen Porto Alegre geboren. Nach dem Studium entscheidet sich auch Olinto de Oliveira für die diplomatische Laufbahn: Von 1934 bis 1936 ist er Geschäftsträger der Botschaft in Kopenhagen, 1938 Erster Sekretär und anschließend Generalkonsul in Genf.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist er zwei Jahre lang Botschafter in Honduras. 1959 kehrt er als Vertreter Brasiliens in Finnland nach Europa zurück.
Jorge Olinto de Oliveira, um 1938 in der Schweiz
Schweizerisches Bundesarchiv, Bern, E8150A#196763#1541
Zusammenfassung der Stellungnahme
Hélio Lobo betont in Évian die Souveränität Brasiliens und seine traditionell liberale Einwanderungspolitik, die allerdings eine strikte Assimilierung der Einwanderer fordere. Die jüngste Einwanderung aus Osteuropa und Asien mache zudem Quoten notwendig, um den „ethnischen“ Status quo zu erhalten. Für Deutschland und Österreich seien 3.099 bzw. 1.655 Einwanderungen vorgesehen. Wegen des Arbeitskräftemangels auf dem Land befürworte Brasilien seit Kurzem die Einwanderung von Technikern und Landwirten und helfe hiermit den USA in ihren Bemühungen, der humanitären Notsituation entgegenzutreten. Um öffentliche Anerkennung bemüht, versucht Lobo einerseits den auf Ausgrenzung von Juden zielenden Vorgaben des Außenministeriums zu entsprechen und andererseits einen gewissen Spielraum zu erlangen, indem er für die Aufnahme von „nichtarischen“ Katholiken wirbt. Lobo vermeidet jeden konkreten Bezug auf die jüdischen Flüchtlinge und darüber hinaus jede Festlegung auf die ohnehin geringen Zugeständnisse.
Konferenzbeiträge
Rede von Hélio Lobo (Brasilien) in der öffentlichen Sitzung am 7. Juli 1938, 15.30 Uhr, S. 1/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Rede von Hélio Lobo (Brasilien) in der öffentlichen Sitzung am 7. Juli 1938, 15.30 Uhr, S. 2/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Rede von Hélio Lobo (Brasilien) in der öffentlichen Sitzung am 7. Juli 1938, 15.30 Uhr, S. 3/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Stellungnahme der Delegation Brasiliens für das Technische Unterkomitee, 11. Juli 1938
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY