Bolivien
Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik
Bolivien gilt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eines der ärmsten lateinamerikanischen Länder und als unattraktives Zuwanderungsland. Die indigene Bevölkerung lebt unter Bedingungen, die der Leibeigenschaft ähneln. Eine Mittelschicht, Gewerkschaften und ein moderner nationaler Markt bilden sich nur langsam heraus. Der Außenhandel ist vollständig von der Zinnproduktion abhängig. Im Chaco-Krieg (1932–1935) werden 52.000 Bolivianer getötet. Die Niederlage gegen Paraguay führt zu enormen Gebietsverlusten und Auslandsschulden sowie politischer Instabilität. Bis im Juli 1937 Germán Busch, Sohn eines deutschen Arztes, die Staatspräsidentschaft übernimmt, wird Bolivien vom Militär regiert.
In der Hoffnung, die darniederliegende bolivianische Wirtschaft anzukurbeln, bietet die Regierung im Juni 1938 unbeschränkte Zuwanderungsmöglichkeiten für alle in der Landwirtschaft tätigen Einwanderer an. Der deutsch-jüdische Industrielle Moritz Hochschild, der für die Einwanderung von Juden nach Bolivien eine wichtige Rolle spielt, unterstützt die Erteilung solcher Visa. Er gründet im Januar 1939 in Zusammenarbeit mit dem American Jewish Joint Distribution Committee die Sociedad de Protección a los Imigrantes Israelitas/ SOPRO (Gesellschaft für den Schutz der israelitischen Einwanderer). Ein von ihm gefördertes Siedlungsprojekt im unerschlossenen Tiefland soll die Zuwanderung größerer Gruppen jüdischer Flüchtlinge ermöglichen.
Die liberale Einwanderungspolitik bleibt nicht unwidersprochen. Gerüchte über einen Handel mit Blanco-Visa und unkontrollierte Zuwanderung durch jüdische Flüchtlinge ohne landwirtschaftliche Qualifikation führen zu politischen Verwerfungen. Restriktivere Einwanderungsbestimmungen werden erlassen, jedoch nicht konsequent umgesetzt. Antisemitische Anfeindungen nehmen zu.
Dennoch entwickelt sich Bolivien bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs zu einem der Hauptaufnahmeländer des lateinamerikanischen Kontinents, bis im April 1940 die bolivianische Regierung ein Gesetz erlässt, das die Einwanderung von Juden ausnahmslos und auf unbestimmte Zeit verbietet. Insgesamt können sich ca. 8.000 deutsche und österreichische Juden nach Bolivien retten.
Paraguayische Soldaten mit bolivianischen Kriegsgefangenen während des Chaco-Kriegs, Januar 1935
Gerüchte, dass Paraguay die im Krieg eroberten menschenleeren Gebiete des Chaco mit geflüchteten Juden besiedeln will, schüren in Bolivien Misstrauen sowohl gegen Flüchtlinge als auch gegen die liberale Einwanderungspolitik.
SZ Photo, München
Augenzeugenbericht über „Anti-jüdische Pressehetze“ in Bolivien, um 1939
The Wiener Library for the Study of the Holocaust & Genocide, London
Artikel zum Ende der liberalen Einwanderungspolitik in der in Bolivien erscheinenden deutschsprachigen „Rundschau vom Illimani“ vom 3. Mai 1940
Das Einwanderungsgesetz vom 30. April 1940 richtet sich gezielt und ausschließlich gegen jüdische Flüchtlinge. „In Bezug auf die Einwanderung nichtjüdischer Elemente wird eine liberale Politik angewendet“, berichtet die von deutschen Sozialdemokraten herausgegebene Wochenzeitung Rundschau vom Illimani.
Verlag Ernst Schumacher, La Paz
Delegation
Adolfo Costa du Rels
* 19.6.1891 Sucre † 1980
Der Sohn eines französischen Vaters und einer bolivianischen Mutter wächst in Frankreich auf; er studiert dort Literatur und Rechtswissenschaften. 1912 kehrt Costa du Rels nach Bolivien zurück. Im Ölgeschäft gelangt er in kurzer Zeit zu großem Vermögen.
1917 tritt er in den diplomatischen Dienst ein, 1930 wird er zum bolivianischen Delegierten beim Völkerbund ernannt. Gleichzeitig verfolgt Costa du Rels eine Karriere als Schriftsteller. In Gedichten, Theaterstücken und Prosa kritisiert er die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung und die Privilegien der bolivianischen Eliten. Seine diplomatischen Bemühungen im Chaco-Krieg scheitern.
Seit Beginn des Jahres 1938 ist er in Verhandlungen des Internationalen Nansen-Büros für Flüchtlinge involviert, um Bolivien als mögliches Zufluchtsland für deutsche Juden zu gewinnen. An der Konferenz von Évian nimmt er nicht von Beginn an teil.
Adolfo Costa du Rels, undatiert
Foto: C. Ed. Boesch / United Nations Archives, Genf
Simón Iturri Patiño
* 1.6.1862 Cochabamba † 20.4.1947 Buenos Aires
Simon Patiño wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Er gelangt durch glücklichen Zufall in den Besitz einer außerordentlich ertragreichen Zinnmine. 1905 gehört ihm die größte bolivianische Bergbaugruppe, 1906 auch die größte Bank Boliviens. Patiño hat unmittelbaren Zugang zum Präsidenten und allen politischen Organen.
Das Angebot der Liberalen Partei, für diese in den Senat zu ziehen, lehnt Patiño 1911 ab, ebenso die 1920 von der Republikanischen Partei angebotene Präsidentschaftskandidatur. Seine politischen Interessen und Einflussnahme richten sich vor allem auf die Expansion der Bergbauindustrie. Patiño kontrolliert den weltweit größten Zinnkonzern und gilt als reichster Mann der Welt.
1923 verlegt er seinen Lebensmittelpunkt nach Paris und bekleidet in Frankreich das Amt eines bevollmächtigten Ministers. Als solcher nimmt er an der Konferenz von Évian teil, ohne sich dort öffentlich zu äußern.
Simón Iturri Patiño, undatiert, auf einem Gemälde von Avelino Nogales
Fundación Universitaria Simon Patiño, Cochabamba
Zusammenfassung der Stellungnahme
Adolfo Costa du Rels betont in der Abschlusssitzung der Évian-Konferenz, dass in Flüchtlingsfragen nicht Politik oder Ideologie, sondern Humanität an erster Stelle stehen müsse. Er sagt Boliviens allgemeine Unterstützung der Konferenzziele im Rahmen seiner materiellen und gesetzlichen Grenzen zu; die Bildung eines Zwischenstaatlichen Komitees und die Abschlussresolution der Konferenz seien eine zukunftsweisende Weiterführung der Arbeit des Völkerbundes. Costa du Rels bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass die jüdische Emigration „zum Aufkommen neuer Formen der Zivilisation und der Entwicklung von Fortschritt in südamerikanischen Ländern“ beitrage.
Konferenzbeiträge
Rede von Adolfo Costa du Rels (Bolivien) in der öffentlichen Sitzung am 15. Juli 1938, 11 Uhr, S. 1/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Rede von Adolfo Costa du Rels (Bolivien) in der öffentlichen Sitzung am 15. Juli 1938, 11 Uhr, S. 2/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY
Rede von Adolfo Costa du Rels (Bolivien) in der öffentlichen Sitzung am 15. Juli 1938, 11 Uhr, S. 3/3
Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, NY